Dirk Reinhardt an unserer Schule
Am 20.6.24 besuchte Dirk Reinhardt unsere 8. und 9. Klassen, um aus seinen Romanen „Train Kids“ und „Edelweißpiraten“ vorzulesen -
und mit den Schülerinnen ins Gespräch zu kommen. Die beiden 8. Klassen hängen gebannt an seinen Lippen, als er, unterstützt von eindrucksvollen Bildern, die er bei seiner Recherche in Mexico aufgenommen hat, von einer der gefährlichsten Reisen der Welt erzählt. Das Besondere an seinem Buch „Train Kids“ ist nämlich, dass es die Jugendlichen, von deren abenteuerlicher Reise er berichtet, wirklich gibt. Denn die Erlebnisse der fünf fiktionalen Hauptpersonen des Buches basieren auf realen Vorbildern und sind aus den Erzählungen der Jugendlichen entstanden.
Die Train Kids haben reale Vorbilder
Dirk Reinhardt hat dazu mehrere Wochen Mexico bereist, die Migrations-Geschichten der Jugendlichen aufgeschrieben und all das Elend dokumentiert, dem sie in Mittelamerika zu entkommen suchen. Die Jungen und Mädchen fahren auf ihrer schwierigen und gefahrvollen Reise meist als blinde Passagiere auf den Zugdächern, was dem Buch den Namen „Train Kids“ gegeben hat.
Jahr für Jahr machen sich schätzungsweise 300.000 Migranten aus Mittelamerika auf den Weg, darunter bis zu 100.000 allein reisende Jugendliche. Orte, Begegnungen mit der korrupten Polizei, Banditenüberfälle und Konflikte mit den berüchtigten Banden der Maras beruhen auf echten Begebenheiten und diese Authentizität berührt die Zuhörerinnen sehr.
Ein glückliches Ende ist für die 3000 km lange Reise von Miguel, Emilio, Fernando, Angel und Jaz, ganz wie auch in der Realität, nicht in Sicht. Zigtausende der Migranten, insbesondere die auf sich gestellten Jugendlichen, verschwinden, sie werden getötet oder fallen Unfällen, Banditen oder Drogenkartellen zum Opfer.
In der anschließenden Fragerunde interessieren sich die Mädchen vor allem für die Recherchemethoden des Autors und seine prägendste Begegnung dort. Herr Reinhardt berichtet von einem Mädchen, das sich in Herberge der Mönche die Haare geschoren hat, um die Reise als „Junge“ anzutreten und so Zuhälterbanden zu entgehen, welche entlang der Schienen Mädchen kidnappen und zur Prostitution zwingen. Ihre Geschichte ist in die Erlebnisse von Jaz im Roman eingeflossen. Gerade im Hinblick auf die in Deutschland geführte Migrationsdebatte und die Kriege in der Ukraine und in Israel hat das das Drama von Flucht, Vertreibung und Migration leider auch heute wieder viel an Aktualität gewonnen.
Widerstandsgruppe, die kaum bekannt ist
Von einer der unbekannteren Widerstandsgruppen im Dritten Reich erzählt der Autor danach den beiden neunten Klassen. Er nimmt sie mit in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, als sich im Ruhrgebiet eine anfangs unpolitische Gruppe von Jugendlichen aus der Arbeiterschaft formiert, die zunächst „nur“ wegen ihrer freiheitlichen Gesinnung ins Visier des Naziregimes gerät. Anders als etwa die „Weiße Rose“, die konservativen Offiziere rund um Stauffenberg oder der Schreiner Georg Elser, die bis auf den heutigen Tag erinnert und geehrt werden, haben die „Edelweißpiraten“, wie sich die Jugendbewegung nennt, viele Jahre keine gesellschaftliche Anerkennung als Widerstandskämpfer erfahren. In der jungen BRD wurden sie als kleinkriminelle Unruhestifter verunglimpft und ihr Engagement gegen den Unrechtsstaat wegen der „unpolitischen“ Ausrichtung in Frage gestellt.
Doch auch wenn sie anfangs vor allem aus Freiheitsliebe beginnen, die Wehrerziehung der Hitler-Jugend (HJ) zu verweigern, so entwickeln sie in der Auseinandersetzung ein politisches Bewusstsein und erkennen zunehmend deutlicher den menschenverachtenden Charakter des Regimes. Die Jungen und Mädchen, die sich aus Angst vor Bespitzelung nur mit Tarnnamen anreden, revoltieren mit den Waffen der Jugend: sie provozieren durch ihr Äußeres, ihre bunte Kleidung, ihre längeren Haare statt des Militärschnitts. Gerade diese „Normalität“ der Jugendlichen, die sich „nur“ ihre persönliche Freiheit nicht nehmen lassen wollen, macht es den Schülerinnen leicht, sich mit ihnen zu identifizieren.
Doch aus der Provokation wird Ernst, in der Gegnerschaft zur Nazi-Diktatur radikalisieren sich die Edelweißpiraten und setzen Gesundheit und Leben aufs Spiel, um sich gegen die Repressalien zur Wehr zu setzen. Aus ihrer Ablehnung der HJ wird eine offene Feindschaft, in der es zu Straßenschlachten zwischen den Edelweißpiraten und den „Kindern des Führers“ (= der HJ) kommt.
Sie wollen nicht nach der Arbeit in den Rüstungsbetrieben noch militärischen Vorbereitungsdienst leisten und anschließend in den Krieg geschickt werden. Sie beginnen Flugblätter zu verbreiten und schreiben aufrührerische Parolen an Wände und Unterführungen. So wird etwa aus dem HJ-Spruch: „Deutschland wird leben, auch wenn wir sterben müssen“ ein „Deutschland wird leben, wenn ihr gestorben seid“. Einige Edelweißpiraten gehen noch weiter und bringen Züge, die den Nachschub an der Front garantieren sollen, zum Entgleisen. Natürlich geraten sie so ins Visier der Gestapo, die sie auch ins berüchtigte EL-De-Haus bringt und dort mit Drohungen und Schlägen versucht, ihnen Geständnisse abzuringen.
Auf die Frage, wie das Interesse an den Edelweißpiraten entstand, erzählt Dirk Reinhardt eine sehr persönliche Geschichte. Auf dem Heimweg vom Dorfladen nahm seine Oma immer einen Umweg und als er sie fragte, weshalb, erklärte sie ihm, dass sie im Krieg englischen Rundfunk gehört habe und verraten worden sei. Zum Gestapoverhör nahm sie Dirk Reinhardts Vater, der damals noch sehr jung war, mit, in der Hoffnung, so milde behandelt zu werden.
Stattdessen wurde ihr angedroht, ihr den Jungen wegzunehmen, woraufhin sie gestand. Als Kriegerwitwe kam sie noch einmal mit dem Schrecken davon, doch der Gestapobeamte lebte noch Jahrzehnte nach dem Krieg unbehelligt im selben Dorf und an seinem Gartentor wollte sie nicht vorbeigehen. Diese Geschichte habe sein Interesse an der Nazizeit und an Geschichte im Allgemeinen geweckt. Dirk Reinhardt hat Geschichte studiert und ist, was er selten erwähnt, promovierter Geschichtswissenschaftler.
Die jugendlichen Helden des Buches zeigen Courage und Zusammenhalt und das, obwohl ihnen klar ist, dass ihre Taten vermutlich nichts an der Situation ändern werden. Aber für sie geht es darum, dass sie für sich selbst irgendetwas tun und sich danach noch in die Augen sehen können. In dieser Haltung, die natürlich letztendlich doch eine sehr politische ist, die für die Freiheit und Würde des Menschen eintritt und der Nazi-Diktatur trotz der Gefahr für Leib und Leben die Stirn bietet, sind die Edelweißpiraten für uns alle ein Vorbild, beweisen sie doch, dass der Widerstand gegen ein Unrechtsregime dort beginnt, wo sich Freiheitsliebe, Moral und Gewissen der Indoktrinierung und Verführung der Menschen entgegenstellen – zunächst scheinbar, ohne viel zu erreichen, in Wahrheit aber „wie ein kleiner Schneeball, aus dem am Ende eine ganze Lawine wird“.